Washi (1/2) - Geschichte des Japanpapiers
- Annabell
- 27. Juli
- 7 Min. Lesezeit
Anfang Oktober 2023, inmitten meines zweiten Projektjahres (Frühling 2023 bis Frühling 2024), zog ich für 10 Monate nach Japan. Dort erforschte und erprobte ich traditionelle Naturmaterialien, insbesondere Washi: japanisches Papier.
Meine erste Berührung mit der Herstellung von traditionellem Japanpapier war im Dorf Ogawa in der Präfektur Saitama, anderthalb Stunden Zugfahrt nordwestlich von Tokio. Seit über 1.200 Jahren bilden die beiden ländlichen Ortschaften Ogawa, das heute zudem eine Bio-Pionierstadt ist, und sein Nachbar Higashi-Chichibu eine der ältesten Papierproduktionsregionen Japans. Die Herstellungsweise des dort beheimateten Hosokawa-shi ist eine von drei Methoden landesweit, die 2017 zum Unesco Weltkulturerbe ernannt worden sind.
Während meiner Zeit in Japan lernte ich nach und nach Washi kennen, indem ich Hersteller in ihren Werkstätten sprach, Papierladenbesitzer über ihr Sortiment befragte, Künstler traf, selbst Papier aus Rohmaterial herstellte und im Bau von Handpuppen mit verschiedenen Sorten, Klebern und pflanzlichen Festigungsmitteln experimentierte.

Mehr und mehr wuchs in mir ein Empfinden dafür, wie in der traditionellen japanischen Papierhestellung ein hohes ästhetisches Ideal lebt, mit dem sich Menschenleben in der Betätigung im Handwerk mit den Zyklen und Rhythmen der Natur ausbildet. Es liegt mir am Herzen, dass auch in Europa eine neue Beziehung zur Lebendigkeit und Schönheit des Papiers und dessen handwerklicher Herstellung sowie künstlerischer und dabei alltäglicher Verwendung aufkeimt.
So möchte ich Ihnen hier von Washi erzählen in folgenden Artikeln:
★Geschichte
★Herstellung
★Sortenvielfalt
★Die Stimme einer Washi-Künstlerin
Geschichte des Japanpapiers
mit dem Fokus auf Ogawa
Der Ursprung des Papiers
Seinen Ursprung hat das japanische Papier mit dem westlichen gemeinsam im alten China vor 2.000 Jahren. Vor der Erfindung des Papiers schrieb man dort auf Holz- und Bambusstreifen, die teils zu Rollen und ganzen Büchern gebunden wurden, zudem auch auf Seidenbänder.
Eines Tages kam man auf die Idee, bei der Seidenherstellung Faserreste aus dem Produktionsbecken zu schöpfen und zu Bögen zu pressen. Dieses Verfahren wurde ausgeweitet auf Pflanzenfasern aus Hanf und Ramie (Chinagras). Die ältesten Papierfunde sind von besagter Machart und stammen aus der frühen Han-Dynastie (180 bis 50 v.Chr.).
Dann, um 105 nach Christus, geschah mit den Forschungen des kaiserlichen Ministers Cai Lun eine Revolution: Nicht nur brachten seine Experimente mit Stoff- und Fischernetzresten, Gräsern, Hanfspitzen und Maulbeerbast eine neue Rezeptur zutage, sondern er erfand sogar Geräte zur vereinfachten Herstellung. Er legte den Grundstein zur weltweiten Verbreitung des Papiers.
In den kommenden Jahrhunderten wurde Papier in China weitflächig genutzt. Es verfeinerte sich die Herstellung mehr und mehr, bis Mitsumata (Edgeworthia chrysantha), ein Seidelbastgewächs, als Rohmaterial verwendet wurde, aus dem bis heute u.a. chinesische sowie japanische Banknoten hergestellt werden. Schließlich gelangte das bis dahin geheim gehaltene Wissen über zwei Wege in die Welt: zum einen um 600v.Chr. über Korea nach Japan und zum anderen im 8. Jahrhundert über Arabien nach Europa.
Was das Washi betrifft, so besagt der erste in Japan schriftlich verzeichnete Nachweis, dass im Jahr 610 v.Chr. ein koreanischer Mönch namens Donchou, der über die koreanische Peninsula ins Land gekommen war, die Herstellung von Papier gelehrt habe. Die ersten Menschen in Japan, die Papier herstellten, waren Mönche.
Die Geburt des Washi mit der Entdeckung von neri
In jener frühen Zeit, der Asuka-Epoche (538–710), war Papier noch anfällig für Zerfall und konnte nur mit einer gewissen pappähnlichen Dicke hergestellt werden. Nach vielem Ausprobieren geschah im Japan der Heian-Zeit (794–1185) schließlich eine Neuentdeckung: Neri, eine Art Dispergiermittel aus der Wurzel der Lotuspflanze Tororo Aoi (Abelmoschus manihot), wurde dem Schöpfbecken beigemischt. Es bewirkt ein langsameres, gleichmäßigeres Absinken der Fasern und so beim Schöpfen durch Wiegen des Siebs in alle vier Richtungen ihr sorgfältiges Verhaken ineinander, mit dem Ergebnis von ebenmäßigem, reißfesten und dabei bis zu hauchdünnem Papier: Washi, wie es bis heute hergestellt wird. Wo und wie genau Neri entdeckt wurde, ist unbekannt. Denkbar ist, dass beim Experimentieren mit verschiedenen Rohmaterialien die von Natur aus klebrigen Pflanzen (Gampi, Wikstroemia) die Suche nach einer schleimigen Zutat inspiriert haben.
Schon bald wurde Papier weitverbreitet für rituelle shintoistische Dekorationen, als auch für gefaletete Geschenkverpackungen genutzt. Dabei entstanden in der Samurai-Etikette die Vorläufer des Origami. Auch die im 7. Jahrhundert aus China übernommenden Bildrollen, e-makimono, entwickelten sich stetig weiter.

Washi in der Region Ogawa
In Ogawa in der Präfektur Saitama begann die Papierherstellung im achten Jahrhundert, als Papier noch ein Privileg für die Oberschicht war. Dokumente aus der Shosoin Schatzkammer in Nara, wo viele der ältesten Aufzeichnungen Japans liegen, belegen die Herstellung von Washi in der Region um Ogawa erstmals für das Jahr 774n.Chr., als 480 Blatt dort gemacht und gesendet worden waren.
Die bergige Landschaft rings um Ogawa bietet vergleichsweise wenig Anbaufläche für Reisfelder, sodass die Farmer auf spezielle Art an Berghängen anbauten, indem sie Wasser aus einer Bergquelle in stufenförmig angelegte Felder leiteten. In die Schrägen dazwischen pflanzten sie u.a. kozo-Maulbeersträucher, den klassischen japanischen Rohstoff zur Herstellung von Papier. So nutzten sie den Zwischenraum auf zweierlei Arten geschickt, zum einen zum Gewinn von kozo für die Winterarbeit der Papierproduktion und zum anderen zur Sicherung ihrer Reisfelder vor Erdrutschen, da die Wurzeln der Sträucher den Erdboden stärkten. Bis heute kann man an Schrägstellen in den Bergen um Ogawa kozo-Triebe finden.
Auch was den Zoll anging, der in jener Zeit gewöhnlich in Form von Reis gezahlt wurde, kam kozo zum Einsatz: Dokumente belegen, dass ein Aristokrat aus besagter Region statt mit Reis mit Papier gezahlt habe.
Papierkleidung
Was Ogawa angeht, schwiegen anschließend für lange Zeit die Aufzeichnungen über Washi, doch wissen wir stattdessen beispielsweise von den ersten Papierkleidungsstücken in buddhistischen Tempeln, in denen Mönche aus ihren Sutren Roben schufen, oftmals um sich zu wärmen. Durch die Stärkung des Papiers mit Teufelskralle, Kakitanninen und anderen pflanzlichen Mitteln konnte Washi zu Stoff, Webfäden und Kunstleder verarbeitet werden. Neben ritueller Kleidung und Wärmekleidung für Mönche oder Arme gab es schließlich sogar wasserdichte Regenjacken für Farmer und Feuerwehrmänner. Ihre Hochzeit erlebte die Papierkleidung in der Edo-Epoche (1603 bis 1868). Einem von Farmern damals wohl genutzten Kleidungsstück aus Baumwolle mit Kragen aus Papier sagt man nach, dass meist der Kragen den Stoff überlebt habe.
Blütezeit in der Edo-Epoche
Der Beginn der Edo-Epoche (1603 bis 1868), Japans längster Friedenszeit, kam mit einem raschem wirtschaftlichen Wachstum und einer Blüte der Künste und Kultur. Papier und dessen Herstellung wurde dem Volk zugänglich und in verschiedenster Form ins Alltagsleben integriert: In Schiebetüren, Trennwänden, als Tapeten, Fenster, Schirme, Alltagsschreibwaren, Dokumente mit Wasserzeichen, Kleidung, Falsch-Lederprodukte, Schalen, Boxen uvm. Auch wurden schließlich Bücher und Holzschnittdrucke für das gewöhnliche Volk massenproduziert. Es lebte in jener Zeit unter anderem der bedeutende Maler Katsushika Hokusai (Holzschnitt "Die große Welle") und sogar westlich jenseits des Meeres fand Washi bei Künstlern Anklang: 1650

experimentierte Rembrandt mit Japanpapier, später so auch Picasso und Chagall.
Ab 1780 stieg die Nachfrage nach Papier in der Landeshauptstadt Edo, dem heutigen Tokio, so sehr, dass das nahe gelegene Ogawa zu einer von Japans größten Papierherstellungsregionen wurde. Damals gab es dort über 750 Hersteller, die auch Wunschanfertigungen erfüllten. Heutzutage, wo es nur noch ein paar Werkstätten gibt, sagen laut eines ansässigen Washi-Ladenbesitzers ausländische Toursiten oft, sie hätten immer wieder Freude am Ladenbesuch aufgrund der scheinbar nicht endenden Sortenvielfalt.
Hosokawa-shi
In Edo war unter Beamten und Händlern eine Sorte besonders gefragt: das Hosokawa-shi, das sie für ihre Akten und Handelsregister brauchten.
Jenes hochwertige Papier, hergestellt aus dem innersten, hellsten Teil der kozo-Rinde, stammte aus dem Dorf Hosokawa am Fuß des Berges Koya in der damaligen Präfektur Kishu, heute Wakayama. Die Weiterverkäufer in Edo wandten sich aufgrund des großen Andrangs an Papierhersteller in Ogawa, welche die Herstellung von Hosokawa-shi lernten und ab da mit besagtem Papier Edo belieferten.

Grund der Beliebtheit des Hosokawa-shi waren seine Eigenschaften von Leichtigkeit, seidenem Glanz und dennoch hoher Stabilität - zudem besonderer Wasserresistenz: Mit Tinte beschriebenes Hosokawa-shi kann in Wasser geraten und vollkommen unbeschädigt entnommen werden. Dabei ist es eine grundlegende Eigenschaft von Washi, dass Einzelseiten im nassen Zustand und beim anschließenden Trocknen nicht aneinander kleben bleiben. (Es werden bei der Herstellung die frisch geschöpften Papiere ohne Zwischenlagen aufeinander gestapelt und anschließend im Stapel ausgepresst.)
Die besondere Wasserresistenz des Hosokawa-shi ermöglichte es den Händlern und Beamten im Falle eines Lager- oder Archivbrandes, all ihre Aufzeichnungen im Gartenteich in Sicherheit zu bringen, bis das Feuer gelöscht war.

Während es heutzutage in Hosokawa keine Papierproduktion mehr gibt, wird in Ogawa und in Higashi-Chichibu nach vielen Auf und Abs nach wie vor in verschiedenen Werkstätten und Lernzentren Washi geschöpft, auch Hosokawa-shi in von Generation zu Generation bewahrter Handwerkskunst, und in lokalen Läden sowie auswärtig verkauft.
1978 ernannte die japanische Regierung die Herstellung des Hosokawa-shi zum immateriellen Kulturerbe und der "Verein der Hosokawa-shi Handwerker" zur Bewahrung der Tradition und zur Ausbildung von Nachfolgern wurde gegründet. 2014 setzte UNSECO sie neben der zweier weiterer Sorten, die in jeweils über 1.000 Jahre alter Handwerkstradition aus kozo gefertigt werden, auf seine Liste der Weltkulturerbe:
★Hosokwa-shi aus der Region um Ogawa in der Präfektur Saitama,
★Sekishu Banshi aus der Iwame-Region in der Präfektur Shimane,
★Hon-minoshi aus der Mino-Region in der Präfektur Gifu.
Besuch im heutigen Ogawa
In der Region um Ogawa wird bis heute die Kunst der Papierherstellung gelebt und auch für Besucher angeboten.
Verschiedene kleine und große Läden in und um Ogawa verkaufen ein reichhaltiges Sortiment an Washi sowie Papiergegenständen. In Werkstätten in Ogawa und in Higashi-Chichibu gibt es Einzel- und Gruppenworkshops, die von Papierschöpfen bis hin zum Gesamtprozess der Papierherstellung reichen. Auch gibt es künstlerische Kurse in beispeilsweise Kalligraphie, Buchbinden, Holzdruck, Collagen und vielem mehr, sowie auf lokalen Veranstaltungen und Festen kleine Bastelworkshops, an denen auch Kinder teilnehmen können.
Was die Popularisierung des Ogawa-Washi angeht, ist besonders nennenswert das örtliche Tanabata-Fest, das am 7.7. gelegene japanische Sternenfest, das in Ogawa seit 1949 öffentlich gefeiert wird, dort am 27. und 28. Juli.
Tanabata feiert die in China geborene Legende der Liebe der beiden Sterne Altair und Vega, einer webenden Prinzessin und einem Schafhirten. Geschmückt wird der Anlass mit Bambus- und Papierdekorationen und die Menschen schreiben ihre Wünsche auf Papierstreifen, die an Bambuspflanzen oder -zweigen zu den Sternen gesendet werden. In Ogawa bereiten die Einwohner bereits Monate im Voraus beachtliche Dekorationen aus Ogawa-Washi vor, z.B. in freiwilligen Komittees oder in Schulprojekten. Am Tag des Fests werden neben Ständen und Paraden im geschmückten Ortskern auch Workshops im Schöpfen von Washi oder Basteln mit Washi angeboten.

Es lässt sich nun bezüglich Washi, allein schon bezüglich Ogawa-Washi, noch vieles erzählen und erforschen und dieser Artikel bietet bloß einen bescheidenen ersten Einblick in die große Geschichte des japanischen Papiers.
Im nächsten wird es um sein Rohmaterial und um seine Herstellung gehen.
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